Wild campen
I.
Drei Stunden Vollgas und ein Scheppern im Kleinwagen, dass man eh lieber nicht redet, dann ist man drin in der Trachtenlandschaft. Gipfel, dass es einem den Hals verdreht im Auto, unten grasen Kühe an den Bergen und in den Seen ein Glitzern als wären da Sternspritzer reingefallen. Das Wetter hat nämlich auch mitgespielt: Ein Kaiserhimmel war das über den Köpfen, den zerzausten. Denn kaum waren sie auf der Landstraße, die Anna am Steuer und der Christoph daneben, Schiebedach auf und hallo Salzkammergutluft!
Kein schlechter Start für ein Beziehungswochenende. In einem haben sie sich dann aber doch geschnitten gehabt. Ende September winken einem keine Campingplätze mehr entgegen vom Straßenrand. Sterbensgrau liegen die am See und menschenleer und wenn einer offen hat, steht da: Nur Dauercamper.
Auf einem haben sie dann ihre Runde gedreht. Wie geplatzte Wohnzimmer sind da die Wohnwagen gestanden mit den Verandazelten davor. So viel Putziges und Grausliges und überall kann man hineinschauen in die Geschmäcker der Menschen. Beim Mann an der Rezeption hat dann aber selbst das Zuckerbäckerlächeln von der Anna keine Chance gehabt. Ausnahmen sicher nicht, nicht in der Nachsaison, hat der Mensch mit den alten Mundwinkeln gesagt. Landlogik, ist es ihr da durch den Kopf gegangen, aber mit dem Stimmungshoch wars vorbei. Auch weil jetzt vom See her ein Wind aufgezogen ist als wenn sich der Sommer schon aufmachen würde für den Luftmarsch über die Berge Richtung Süden.
Er hat ja eh lieber zum Neusiedlersee wollen, hat der Christoph dann im Auto gemosert, aber keine Chance: Eine Beklemmung würde sie da bekommen in dem Flachland, Schweißausbruch schon beim Gedanken. Da hat er gleich wieder zurückgerudert, auch wegen Tuchfühlung und raus aus der Schieflage, der gemeinsamen.
Am Ende hat dann doch einer Tagescamper genommen. Die Dirndlfrau nicht begeistert am Empfang, aber christlich war sie, das hats von den Wänden heruntergeweht in dem Hartholzzimmer. Wie sie einträgt in das große Buch, haben die beiden sich umgeschaut: Marienbroschüren überall mit Rehkitzen, großen Augen und Waldlichtungen, Lichtdrama und Titeln wie „Herz-Jesu-Weg“ oder „Lob der Demut“. Ein bissl aus Rührung über die Eingeborenen haben sie sich dann angegrinst. Eigentlich das erste Mal auf der Reise.
II.
Reihe zwei also. Glücklich waren sie mit dem Stellplatz, obwohl der Campingplatz praktisch leer und sie mittendrin: rechts von ihnen der alte Hymer-Campingbus mit den Panoramscheiben, links das Familienzelt mit rostigem Kombi davor. Aber keine 20 Meter dahinter: der See. Und ein Steg, der direkt hineinführt in den Bilderbuchblick. Das Wasser jetzt schon dunkelgrau in der Dämmerung, ein Nebelpelz auf den Bergen und drüben am anderen Ufer springen gerade die Laternen an. Die beiden gleich raus über die nassen Bretter, aber vorne am Steg dann eine Ratlosigkeit, weil umarmen, so weit waren sie dann doch noch nicht. Und so stehen sie da: er Bärtchen und Flanellhemd, sie Lockenkopf in Freizeitfleece. „So schön“ haben sie gesagt und dann lange nichts, aber viel Seeluft haben sie sich hereingeholt durch die kalten Nasenlöcher.
Wie sie dann am Platz die Zeltstangen in die Nylonröhren schieben, hat sich was gerührt in ihrem Rücken. Erst haben die roten Luftballons am Familienzelt gewackelt, dann zippt sich ein Mensch heraus mit schwarzem Kapuzenpulli. Zieht gleich hinter sich den Reißverschluss wieder zu, und zu ihnen ein steinernes „Grüß Gott“. Nichts von wegen Lagerfeuerfreundlichkeit. Aber zum kahl rasierten Bauernnacken hat das gepasst, den er ihnen im Weggehen zugedreht hat wie einen Hintern. Sie nicken ihm ein „Hallo“ nach, aber da ist der Mensch schon im Abmarsch.
Später dann Eintracht in den Alusesseln im Vorzelt bei Rotwein und Kerzenlicht, und wie sie so sitzen, die Anna und der Christoph, ist der Nachbar zurückgekommen in Plauderlaune. Aber nicht mit den beiden, beileibe nicht. Gefachsimpelt hat er mit einem 70+ im Unterhemd mit Bauch und schlaffen Oberarmen, braunen Flecken überall und Achselhaar wie Fächerkorallen. Schnurstracks sind die beiden an ihrem Vorzelt vorbei – kein Blick, kein Gruß – zum großen Campingbus dahinter. Ingenieursmäßig hat der Alte von seiner toten Frau erzählt und von seinem Hymer, in dem er jetzt allein ist, und was der alles kann. Da hat der Nachbar gelauscht wie ein Ministrant. Und der Christoph auch.
„Hallo, hörst du mir zu?“ hat ihn die Anna gefragt, aber er zu ihr den Finger auf den Mund, weil er ganz Ohr war bei den Männern. Mit dem Wein purzeln ja auch die Launen gleich viel flotter, und da wars dann auch schon wieder vorbei mit der Geselligkeit. „Ich geh ins Bett.“ Das kleine Gereizte in ihrer Stimme hat er gar nicht gehört. „Ich komm auch gleich“, schickt er ihr hinterher, abwesend wie Kinder, die gerade ganz Spielkonsole sind. Aber zu lauschen gab’s nicht mehr viel. Wie der Alte in seinen großen Bus verschwunden ist mit den roten Stoffvorhängen und drinnen Licht macht, ist ihr Zelt im Flutlicht gelegen. Und der Nachbar zurück zum Familienzelt mit dem angerosteten dunklen Kombi davor. Ohne Muh.
III.
Weil drei Gläser Wein auch wieder herausmüssen aus dem Körper, ist der Christoph dann in der Nacht aufgewacht. Kriecht aus dem Zelt und raus ins klitschnasse Gras, ein Frost ist das an den Fußsohlen, vorbei am Familienzelt – und da war es. Das Mädchengesicht hinter dem beschlagenen Plastikfenster. Schaut ihn an mit weiten Augen, hebt die Hand, macht den Mund auf – und weg. Starr ist er dagestanden, und dann langsam näher an die Zelthaut gegangen. Aber nichts mehr, nur dunkel. Dann war ihm, als hört er eine Hand vorm Mund und einen verschluckten Laut dahinter, aber nur kurz. Und dann wieder Stille. Irgendwann hat sich der Harndrang wieder gemeldet bei ihm. Also Wasser lassen am Baum, wieder vorbei am Zelt, kurzer Blick aufs beschlagene Fenster, kein Gesicht, nichts, und erleichtert zurück in den Schlafsack. Die Anna hat er nicht aufgeweckt, aber wachgelegen ist er noch eine Weile.
Wie sie dann am nächsten Morgen in der Schleiersonne sitzen vor dem Zelt, grinst ihnen der Nachbar vom Familienzelt ein „Hallo“ herüber über den Kombi. Und im Vorzelt steht eine 13- oder 14-Jährige und kämmt sich die Haare. Komisch nur, dass sie nicht herschaut zum Christoph. Oder doch, aber erst, als der Vater an der Plastikplane über den Fahrrädern zerrt. Ganz kurz bei ihr wieder dieser Blick, der was sucht, kommt ihm vor. Er stößt die Anna, die mit beiden Händen das Kaffeehäferl hält und hinausschaut auf den See. Aber da sind die Räder auch schon befreit und kein Blick mehr, zu spät.
IV.
Irgendwann hats dann zu nieseln angefangen und wie sie so in ihren Alusesseln sitzen im Vorzelt, fragt sie, was er gerade denkt. Eigentlich wollte er ihr den Traum ja nicht erzählen. Aber andererseits, warum nicht, auch wegen Tuchfühlung und so fängt er an. Dass der Nachbar im Zelt der Vater von dem Mädel ist und schräge Sachen mit ihr macht in dem Camping-Bus vom Alten. So mit Deckmantel Hygiene, sie einreibt mit einer Salbe unten rum, und sie muss sich dafür auf so einen alten Friseursessel setzen und er stellt ein Stockerl davor wie früher in den Schuhgeschäften und sitzt so niedriger und reibt sie mit Arzthandschuhen ein und sie schaut in dem Traum genauso wie gestern Nacht im Zelt.
„Gestern Nacht im Zelt?“ hat die Anna gefragt und da war schon was in ihrer Stimme. Wie er dann mit der Geschichte vom Wasserlassen fertig war, hat sich erst einmal ein Schweigen zwischen die beiden gesetzt, ein verstocktes.
Was in so einer langjährigen Partnerin vorgeht, müsste man eigentlich wissen mit der Zeit. Aber auch nur eigentlich. Gebrütet hat sie, und dabei sehr berufstätig geschaut, die Frau Pädagogin. Das Bummerl war jetzt bei ihm. Weil wenn man schon was eher Intimes erzählt und der andere bleibt dann stumm, da stellen sich schon die Löcher an in einem, in die man dann plumpsen kann, wenn man nicht vorbaut. Aber genau das macht der Christoph und spielt den Ball im Was-denkst-du-jetzt zurück.
Und sie, nach einer Pause: „Es ist eh Blödsinn, aber ich denk grade an die Geschichte im Hallenbad.“ Und da sind die Löcher dann schon gewachsen, aber so leicht lässt er sich nicht hineinfallen ins Schwarze.
„Wie kommst du da jetzt drauf?“
„Keine Ahnung, du hast mich gefragt. Und komisch ist es schon.“
„Was?“
„Na dass der Lehrer dir vorwirft, drei Mädchen hätten sich bei ihm beschwert, weil du sie … “, und da macht sie eine Pause, die gar nichts Gutes bedeutet, weil er ja schon weiß, was kommt, und wenn sie so nach Worten sucht, da liegt ein Hund begraben, „berührt hättest unter Wasser und jetzt träumst du so Zeug.“
Jetzt wars vorbei mit der Ruhe im Bauch. „Hallo, ich hab einen Grant gehabt auf den Typen, weil der seine Mädel einfach reinspringen lässt und wild im Kreis herumsplantschen, wurscht, ob da jemand ist. Da bin ich einfach rein geschwommen in die. Und statt seinen Schülerinnen zu sagen, dass sie Rücksicht nehmen sollen, nimmt der sie aus dem Wasser und droht mir mit Bademeister und Polizei. Ich mein das ist doch nur lächerlich!“
„Eh.“
„Aber du sagst jetzt, ich wollt sie begrapschen?“
Und damit ist er dann aufgestanden und losgestampft auf den Steg.
V.
So ein Wirbel im Kopf, der braucht schon seine Zeit bis sich alles wieder gesetzt hat. Aber dann ist sie nach vorn gegangen wo einer sitzt wie ein Klumpen Plastelin und über den trüben See starrt als würden da gerade Seeelefantenherden grasen so fasziniert. „Tut mir leid … ich habs echt nicht so gemeint.“ Und weil sich in dem Klumpen noch nichts gerührt hat, legt sie nach: „Ich war halt auch verbohrt …“
„Wieso auch?“
„Weil ich das Gefühl hab, dass du dich da in was reinsteigerst.“ Eigentlich wollte sie ihm dann noch eins auf die Jungjournalistenkappe geben, von wegen nataschafixiert und Sensationsgier, aber das hat sie gelassen, auch weil Beziehungswochenende.
Und dann war da eine Stille auf dem Steg über dem See. Sogar die kleinen Wellen hat man unten gegen das Holz glucksen hören.
„Kannst eh recht haben im Grunde“, hat er dann nach einer Weile gesagt. Und beide haben sie ihre Blicke vom See geholt und sich angeschaut. Wie’s dann wieder angefangen hat zu nieseln, sind sie zurück zum Zelt, aber ohne Worte.
Auf dem Weg sind ihnen Nachbar und Tochter entgegengeradelt gekommen. War das eine Nussknackerfreundlichkeit im Gesicht vom Vater! Und die Tochter hat ein kleines Lächeln unter ihre roten Backen gemalt, aber geschaut hat sie nur auf den Kies vor ihrem Rad.
Zur Versöhnung dann in die Landpizzeria neben dem Campingplatz. Die Tagliatelle sind in einem Schlagoberssee geschwommen, ein paar Filetspitzen waren auch dabei, und die Gemüsepizza so zugeschneit mit Mozzarella, dass beide im Mundglück versunken sind. Und nach dem dritten Glas Rotwein war alles wieder so superrund zwischen ihnen, dass sie Hand in Hand aufs Zelt zugebummelt sind und der Beischlaf war so was von logisch mit dem Schmeichelessen im Bauch und dem pelzigen Rotwein im Kopf, da kann kommen, was will. Oder fast.
Lichterloh ist es nämlich zugegangen in dem Hymer Campingbus von dem Hängebauchmenschen, wie sie vorbeigegangen sind. Die roten Stoffvorhänge hinter den Panoramascheiben haben weit gestrahlt in die Nacht. Eine Regionalmusik im Radio, dazwischen hat man die tiefe Stimme vom Alten und ab und zu ein Zustimmen vom Nachbarn gehört. Und von dem Mädchen haben sie den Schatten gesehen an der Scheibe. Vielleicht. Aber so genau haben sie dann auch nicht schauen wollen, weil die Zeichen jetzt wirklich auf Tuchfühlung gestanden sind, und zwar ganz handfest. Und so war es dann auch.
VI.
Am nächsten Morgen dann Dauerregen. Aber keine Spur von Verdruss bei den beiden, sie vertieft in ihr Buch und er noch im Halbschlaf, so sind sie gelegen in ihrer blauen Höhle. Wie Reiskörner haben die Regentropfen geknistert am Dach. Irgendwann ist sie dann wieder eingeschlafen unter ihrem Wälzer und er ist aufgestanden. Hat sich im Vorzelt einen Tee gekocht, auf die rote Decke gesetzt, die Beine gefaltet und meditiert. Oder besser gesagt: versucht, weil wie er so atmet, hört er was durchs Reistrommeln und schaut auf. Dass die Zeltfenster auch immer so beschlagen sind im Regen. Aber das sieht er schon, wie er über die Schnauze vom Kombi zum Nachbarzelt hinüberschaut: dass das Mädel im Vorzelt aufstampft und schreit, dann rutscht dem Stiernacken die Hand aus aufs Ärgste, mitten ins Gesicht hinein und sie verschwindet unter der Kühlerhaube aus Christophs Blick. Jetzt hat sein Herz aber zum Angriff geblasen und einen Schweiß heraufgeholt mit jedem Klopfen. Raus in den Regen und schon baumelt ihm der Strauß Luftballons vor der Nase. „Hallo!“ ruft er, weil daran hat er nicht gedacht, dass man beim Zelt nicht anklopfen kann. Noch einmal, diesmal länger. Dann ein drittes Mal, und diesmal ein sehr langes und lautes: „Grüß Go-hott!“
Weil sich noch immer nichts getan hat, wischt er mit der Hand über das Vorzeltfenster: Brav stehen da die Klappsessel drinnen, sogar ein Buch liegt auf dem Klapptisch. Wenn er einfach reingeht? Plötzlich ein Wackeln am Reißverschluss. Ganz ruhig macht der Mensch das Außenzelt oben auf, nur so weit, dass sie sich gegenüberstehen: da trockenes Gesicht, dort verregnetes.
Kurz Leere im Kopf. Dann: Hilfe anbieten, das war’s, Überforderung etc. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Wir haben da was gehört von drüben …“ Der Mann schaut ihn lang an, viel zu lange, dann setzt er sich ein Lächeln auf und sagt sehr laut: „Ihnen ist das Salz ausgegangen? Bin gleich wieder da.“ Und lässt ihn im Regen stehen, perplex ist kein Ausdruck. Erst jetzt hat der Christoph gespürt, wie ihm die Tropfen unter dem T-Shirt über den Rücken laufen. Aber schon kommt ein Stanitzl aus dem Zelt, danach gleich die Hand und der Kopf. „Bitte.“ „Danke, aber ich brauch kein Salz. Ich hab Sie gefragt, ob bei Ihnen alles ok ist? Ich hab gesehen, wie Sie …“ „Keine Ursache!“, unterbricht ihn der Nachbar wieder viel zu laut und statt Lächeln jetzt ein sehr strenger Blick. Und in einem Ton, scharf wie eine Stahlfräse: „Das Stöhnen aus Ihrem Zelt war auf dem ganzen Platz zu hören! Ich hab eine dreizehnjährige Tochter, das ist ein Familiencampingplatz und ich sags Ihnen nur einmal: Ich will Ihre Schweinereien nie wieder hören, verstanden? Und damit Sie’s wissen: die Platzleitung ist informiert.“ Da ist der Reißverschluss zugegangen, so schnell dass der Christoph das „Aber wir schlagen wenigstens nicht unsere Tochter, von anderem ganz zu schweigen“ nur noch bei sich im Kopf gehört hat.
VII.
Als er zurück ins Zelt gekommen ist, war Anna wach. „Ich bin von deinem „Grüß Go-hott“ aufgewacht, das war gruselig. Was war denn los?“ Dann hat er ihr die Geschichte erzählt und am Ende nur Kopfschütteln. „Der Typ ist so schräg. Ich will hier weg.“ Aber er noch aufgewühlt und zurückhaltend in puncto Zelte abbrechen: „Anna, der schlägt die Kleine, versteckt sie, wer weiß, was der noch mit ihr macht.“
„Dein Traum von gestern.“ Und schon ist es wieder im Zelt gestanden, das zwischen ihnen. Damit wieder von vorn anfangen wollten sie nicht, sicher nicht, weder er noch sie. Dann lieber schweigen. „Du kannst das nicht auf dir sitzen lassen, stimmt’s?“, hat Anna es nach einer Weile noch einmal versucht, aber da ist ihre Stimme schon in der Luft gehangen wie ein Altweiberfaden. Und wie er dann vorgeschlagen hat, sie fahren gleich am nächsten Morgen und gehen am Abend rüber in den Ort essen, hat sie nachgegeben.
Am späten Nachmittag ist der Himmel langsam aufgeklart. Wie sie am Berg entlangspaziert sind zum Nachbarort, da hat ihnen der See noch ein Flaschengrün geschenkt, tiefe Schächte hat die Sonne da hineingelegt ins Wasser. Kein Wunder, dass sie sich da seidig die Hand gegeben haben. Und nach ein paar Schritten stehengeblieben sind und sehr vorsichtig die Lippen haben aufeinander landen lassen. Weiß der Himmel, warum dem Christoph gerade in dem Moment wieder die Tochter eingefallen ist vom Nachbarn. Aber wenn einer nicht ganz dabei ist, das merkt man, weil Küssen ist Millimeterarbeit. Drum sind sie dann bald schon wieder weitergegangen in Richtung Wirtshaus mit dem guten Bier und den Salzburger Nockerln.
Wenn man die zum ersten Mal isst, gräbt man sich mir nichts dir nichts hinein in den Schaumberg, so fluffig, dass der Mund glaubt, er hat nur süße Luft am Gaumen, aber acht Eier sind acht Eier, und im Bauchraum wird’s bald eng. Und wenn dann noch fleißig Bier dazukommt, stehen die Weichen auf Übelkeit. Zurück sind sie dann mehr gewankt, und auf halbem Weg ist es dann wieder losgegangen mit dem Regen.
VIII.
Kaum im Zelt, waren sie auch schon weg, Blähbauch und Übelkeit hin oder her. Weil das Bier ja einen kräftigen Anschubschlaf gibt. Das Blöde ist nur, dass es den nur einmal spendiert. Und wenn der aufgebraucht ist, reicht eine Kleinigkeit, und man ist wach. Wie die Schritte auf dem Kiesweg vor dem Zelt. Erst hat der Christoph nur gelauscht. Aber dann hat’s ihn gejuckt. Also rein in die feuchten Wanderschuhe, Regenjacke übergeworfen und raus in den Regen.
Kaum hat er den Kopf durch die Luke gesteckt, ist es ihm schon aufgefallen, das rote Licht wieder. Und so ist er um den Bus geschlichen, von wegen Lücke irgendwo zwischen den Vorhängen. Wenn so ein Jungdetektiv aber ein bissl was in der Birne hat, promillemäßig nämlich, ist er so fixiert von seiner Mission, dass er anderswo nicht hindenkt, wie zum Beispiel an die Ruder, die hinten an der Stoßstange aufgelegen sind und über die er jetzt stolpert wie im Trickfilm. Da fliegt die Tür auf und – warum schaut der Stiernacken raus und nicht der Alte? –, aber der Christoph gut in Deckung. Kurz geht der Vorhang auf die Seite, wieder das schwarze Nachbarsgesicht, und gleich wieder Ruhe im Regen.
Vielleicht haben sie bei dem Regengetrommel das Krachen nur am Rand gehört und deshalb so wenig Jagdfieber im Bus. Jedenfalls hat sich beim Christoph nach dem Essen und der Aufregung jetzt der Darm gemeldet, aber vehement. Er also raus aus der Deckung und ganz beiläufig durch den Regen spaziert, aber kaum war der Bus außer Sicht, flott hinüber zu den Wasschräumen.
IX.
Wie leicht man gleich wieder wird im Kopf, wenn der Darm leer ist. Und so ist er gebummelt im Regen als wärs ein Mailüfterl – durch den Wohnwagen-Park der Dauercamper mit den Holzzäunen davor und dem Nippes auf dem Rasen: Frösche, Igel, Hasen, Zwergerl aus Terracotta, putzig zum Fürchten. Dann das Rumsen. Und der Schrei – und sofort wieder der Verdacht hellwach in ihm. So falsch ist er diesmal auch nicht gelegen damit. Und rennt los.
Schnurstracks zwischen den Wohnwagen durch Richtung Bus, der leuchtet jetzt schon durch die Zweige, er auf die Tannenreihe zu, da fliegt die Tür auf und bitte, hat er‘s nicht gewusst, da rennt sie im Nachthemd vom Bus weg Richtung Bäume und ist schon über den Kiesweg, jetzt wackelt der Alte im Unterhemd raus aus dem Bus, schaut links, schaut rechts, schießt den Kiesweg entlang, und da läuft sie praktisch rein in den Christoph und was macht man da anders als die Arme auf, schon ist sie drin und er spürt ihren schmalen Körper und hört ein Schluchzen und hält sie ein klein bisschen fester. Wieso er dann sagt „Alles ist gut“, weiß er auch nicht, aber es kommt ihm vor wie aus einem Film, nur dem falschen vielleicht, weil gleich hat sie sich losgemacht und ihn angeschaut wie wild, vielleicht hat er sie zu fest gehalten und er schickt ein „Was ist passiert?“ nach, aber sie schaut ihn erst an und dann weg, schüttelte den Kopf und dreht sich um und wieso hat er das nicht schon längst gesehen: Ganz langsam kommt da der Vater unter den Tannen hervor und bleibt hinter ihr stehen. „Nina, kommst du?“ Keine Reaktion. Und jetzt war der Moment da, ein heißer Strom schießt ihm ins Gesicht und er nimmt sie wieder fester in den Arm. „Sie kommt nirgends hin, ich ruf jetzt die Polizei.“ Und als wenn er das alles nur gedacht hätte, geht jetzt der Nachbar auf ihn zu und kommt ganz nah mit seinem Baumstamm von einem Gesicht „Sie werden meine Tochter sofort loslassen. Dass sie sich nicht genieren!“ Und dann hat er schon den Schraubstockgriff am Oberarm gespürt und war jetzt welpenfromm instinktiv und hat sie losgelassen. Gebrannt hat der Oberarm noch immer, aber kaum war er frei und der Nachbar schon ein Stück kleiner, ist wieder ein Mut in ihm aufgestiegen und da hat er ihm noch ein „Ich geh zur Polizei!“ nachgerufen, aber da waren sie schon hinter den Bäumen verschwunden Richtung Bus.
X.
Zur Polizei hat er nicht mehr gehen müssen. „Herr Tlapa?“ hat eine Stimme am nächsten Morgen sehr laut vor dem Zelt gefragt. „Bitte stehen Sie auf, Polizei.“ Beim letzten Wort waren sie beide wach. Mit großen Augen hat er die Anna angeschaut. So schnell können sich Furchen ackern in ein Morgengesicht. Und bevor sie noch ein Wort herausgebracht haben, von draußen Deeskalation: „Guten Morgen, wir müssen den Herrn Tlapa zur Einvernahme bitten. Wenn Sie bitte mitkommen auf die Wachstube, dort können wir alles besprechen.“
Mulmig angezogen, dann Reißverschluss auf und Augen klein – im grellen Sonnenlicht stehen unter ihren Schirmmützen: ein Polizist wie Großvater Petz, daneben, finster im Blick, blonder polizeilicher Nachwuchs: „Sie können Ihren Lebensgefährten gerne begleiten.“ Die Anna hat nur noch den Kopf geschüttelt, wie sie in den weißen VW-Bus eingestiegen sind.
Bei der Einvernahme hat sie vor der Tür gewartet. Nach einer Stunde ist er rausgekommen – aufgewühlt und mit Schweißflecken unter den Armen. „Das Schwein hat mich angezeigt. Weil ich seine Tochter in den Arm genommen hab. Der kann jetzt was erleben!“
Zurück zum Campingplatz sind sie zu Fuß, weil Staatsmacht schließlich kein Taxiunternehmen. In 15 Minuten kann ein Zorn schon verrauchen. Oder sich aufschaukeln. Mit jedem Schritt hats beim Christoph stärker gepumpert im Hals. Stramm vorbei an der Rezeption und da sehen sie auch schon den Alten vor seinem Hymer-Bus, der hat sie fest im Blick, schon von weitem, wendet den Kopf nicht ab während er mit einem Mann spricht, der ihnen jetzt auch den Kopf zurdreht, und gleich wieder wegschaut von wegen zu auffällig. Eiskalte Blicke von allen Seiten, aber kein Wort.
Und wie sie endlich zu ihrem Zelt kommen, war daneben ein Stück Boden, ein Stück Busch und ein Stück See, das sie noch nie gesehen hatten. Weil Kombi und Familienzelt davorgestanden hatten. Und die waren jetzt weg.
„Du feiges Oaschloch!“ hat der Christoph gebrüllt, dass es jeder gehört hat am Platz. Und sie leise, aber ohne Wenn und Aber: „Lass uns hier abhauen. Jetzt.“
XI.
Selten hat sich Autobahn so gut angefühlt. Gesprochen haben sie nicht viel auf der Rückfahrt. Einmal hat er es noch versucht, von wegen, ob er sich das alles nur eingebildet hätte, aber da ist sie ihm nicht drauf eingestiegen. Sie müsse sich konzentrieren, Regen und Verkehr und dass sie nur froh wäre, dort weg zu sein. Dann wollte er auch nicht weiterbohren.
Wie in Zeitlupe haben sich die Seile der Überlandleitungen von Mast zu Mast gehangelt. Er ist tiefer in den Sitz gerutscht, bis er nur noch die schwarzen Linien vor dem Himmel gesehen hat wie Notenzeilen, und hat den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. „Vielleicht hätten wir doch zum Neusiedlersee fahren sollen.“ Anna sah konzentriert auf die Regenfahrbahn. Bremslichter türmten sich auf der Windschutzscheibe zu einem verwaschenen Mosaik auf und verschwanden wieder. „Ja, vielleicht.“